Direkt zum Inhalt

Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen oder „Das ist mir Wurst!“

Posted in Theaterrezension

„Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“, ruft der Chor dem Publikum anklagend entgegen. Anklagend ist das gesamte Stück „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“. Enrico Lübbes Inszenierung von „Die Schutzflehenden“ von Aischylos und „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek verbindet zwei Werke, die sich mit der Aufnahme und Abweisung von Flüchtlingen befassen. Aischylos‘ Werk zeigt die Töchter des Danaos, die vor einer Zwangsheirat mit ihren Cousins nach Argos fliehen. Dort bitten sie König Pelasgos um Asyl. Der allerdings will seine Einwilligung nicht geben, ohne vorher sein Volk befragt zu haben. Die Bewohner von Argos entschließen sich für die Aufnahme der Frauen und das keinen Moment zu früh, denn die Ägypter sind ihnen dicht auf den Fersen.
Jelinek nimmt die Vertreibung von Flüchtlingen, die 2013 Asyl in der Votivkirche an der Wiener Ringstraße zum Anlass, Aischylos‘ Text in „Die Schutzflehenden“ neu zu bearbeiten. Im Fokus steht wiederum ein Chor von Frauen, die nach Asyl suchen, aber ein ums andere Mal abgewiesen werden. Verzweifelt werfen sie mit Papier, fragen, an wen sie sich wenden sollen und sitzen auf Müllsäcken.
Enrico Lübbe fügt die beiden Texte zusammen. Dadurch stellt er die Frage nach den Schwierigkeiten, mit denen Ausländer und Flüchtlinge im Westen zu kämpfen haben. Am 30. April 2020 stellt das Schauspiel Leipzig „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ mit Audiodeskription als Livestream zur Verfügung.

Die Bräute und der Jelinek-Chor

Das Bemerkenswerte an dieser Inszenierung sind die beiden Chöre, die von dem Audiodeskriptoren als „Die Bräute“ und „Der Jelinek-Chor“ bezeichnet werden. Die Bräute, die Töchter des Danaos, tragen alle Hochzeitskleider und eine Maske. Hinter den Masken sind ihre Stimmen schwer zu verstehen. Ihre Synchronisierung ist hingegen perfekt. Die Bräute werden ausschließlich von Männern gespielt. Das führt dazu, dass ihre Stimmen im Einklang wie ein vielstimmiges anklagendes Monster klingen.
Der Jelinek-Chor trägt schwarze Hosenröcke und dazu Seidenblusen. Er besteht aus einem reinen Frauenchor und klingt dadurch sanfter als die männlichen Bräute.
Während die Bräute von Aischylos von den Bewohnern von Argos willkommen geheißen werden, nachdem sie ihre Abstammung von Zeus beweisen, sitzt der Jelinek-Chor auf Müllsäcken, wirft mit Papieren, bittet und betet und wird doch abgewiesen. Die beiden Chöre sorgen für ein einzigartiges Klangerlebnis. Es ist eindrucksvoll, wenn Dutzende von Menschen synchron sprechen. Auf der anderen Seite sind sie dadurch auch schwerer zu verstehen und es fehlt, trotz des emotionalen Themas, an einer Bindung zwischen Flüchtlingen und dem Publikum. Das Schicksal von vielen ist schwieriger nachvollziehbar als das Schicksal eines einzelnen Menschen und so bleiben die Frauen leider nicht nur metaphorisch unsichtbar.

Wer darf rein?

Meiner Meinung nach verdeutlicht keine Szene den Abstand zwischen Wohlstandsgesellschaft und Fremden mehr als die „Würstchen- Szene“: Vier Menschen in Würstchenkostümen liegen am Strand in der Sonne. Darunter ist eine Bratwurst, ein Käsekrainer, eine Weißwurst und ein Hotdog. Sie beklagen sich über Flüchtlinge: Sie kommen, aber gehen nicht wieder. Sie wollen immer mehr (zum Beispiel einen Sitzplatz im Zug). Sie bedrohen die Freiheit der westlichen Gesellschaft. Im Hintergrund spielt ein Schlager passend zur Heile-Welt-Szene. Die Würstchen in der Sonne zeigen die Gleichgültigkeit der um Schutz Angeflehten. Sie wollen nicht gestört werden. Sie wollen keine Veränderungen und am wenigsten wollen sie von dem abgeben, was sie haben.
Doch nicht alle Ausländer werden abgeschoben. Die Opernsängerin Anna Netrebko, der sich alle Blicke zuwenden, wenn sie in einer Badewanne sitzend und singend auf die Bühne schwebt, wird wegen ihrer Berühmtheit gerne aufgenommen. Ebenso geht es der Tochter des russischen Ex-Präsidenten Boris Jelzin. Ihre Einbürgerung wird wegen ihres Reichtums ebenfalls toleriert. Wer hingegen keinen Namen, keine Papiere, kein Geld hat, wird „zurück ins Meer geschoben“.

Audiodeskription von „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“

Bei anspruchsvollen Inszenierungen wie „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ vermisse ich eine Tastführung. Das Stück beginnt und schließt mit einem eisernen Vorhang. Auf der Bühne steht auch eine halbierte Röhre, die an das Innere eines Schiffs erinnern soll. Wie genau das Bühnenbild und die Schauspieler aussehen, kann ich mir durch die reine Beschreibung leider nicht vorstellen. Besonders im digitalen Raum fehlt es so an der Möglichkeit der haptischen Erfahrbarmachung.
Der Audiodeskriptor hat nicht viel zu tun, da das Stück mit Dialogen und Monologen gespickt ist. Was beschrieben wird, ist meistens bildhaft und deutlich. Was mir noch fehlt, ist das /Update, wer gerade spricht. Die Inszenierung hat viele Figuren und es fällt mir schwer, mir alle Namen zu merken.

Diskutiert mit!

Am 23. Mai 2020 findet um 11:00 Uhr unser nächster Theaterclub statt. Thema ist das Stück „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen, das am 21. Mai als Stream mit Audiodeskription auf der Webseite des Schauspiel Leipzig verfügbar ist. Zu Gast ist Maila Giesder-Pempelforth, die an der Audiodeskription mitgearbeitet hat.

Mehrmals monatlich halten wir euch über die aktuellen Vorstellungen mit Audiodeskription auf dem Laufenden. Hier geht’s zum Newsletter.

Relevante Links