Am 2. Oktober unternehme ich eine kleine Reise. Ich mache Urlaub auf einer Insel. Weit ist die allerdings nicht weg. Sie befindet sich, um ehrlich zu sein, ganz in der Nähe, denn um auf „Die Insel der Perversen“ zu gelangen, muss ich nur ins Deutsche Theater in Berlin gehen.
Ich bin gespannt, was mich erwartet. „Die Insel der Perversen“ sehe ich nicht zur Premiere, sondern ein gutes Jahr später zur Saalprüfung der Audiodeskription. Das bedeutet, ein gemischtes Publikum aus blinden, sehbehinderten und sehenden Menschen sitzt im Saal, hört die Beschreibungen über Kopfhörer und gibt anschließend Feedback, bevor das Stück offiziell mit Audiodeskription gezeigt wird. Ich sitze also nicht nur als Zuschauerin da, sondern auch als Teil eines Testpublikums, das zuhören, prüfen, kritisieren soll.
Weidel und Wagenknecht an der Macht
Rosa von Praunheims „Die Insel der Perversen“ ist eine grelle Politfarce, die alles und alle durch den Kakao zieht. In dieser Zukunftsvision haben Alice Weidel und Sahra Wagenknecht Deutschland übernommen – eine bizarre Allianz aus links und rechts, deren gemeinsames Ziel es ist, das Land endlich wieder „sauber“ zu machen. Theater, Diversität, Demokratie ist alles abgeschafft. Stattdessen gibt es wieder „deutsche Klassiker“ mit klaren Frauen- und Männerrollen, wie Weidel am Klavier singt.
Ich erinnere mich, wie ich in der Reihe vor mir Silja höre, eine andere blinde Zuschauerin aus dem Evaluationsteam. Immer wieder kommentiert sie (und nicht eben leise), zum Beispiel: „Das ist doch gemein!“ als Rosa von Praunheim aus dem Stück geworfen wird. Die Leute um uns herum müssen denken, sie gehört zur Inszenierung.
Hitler bellt, Putin singt – und Merz war einmal Kanzler
Insgesamt klingt das Stück nach schwerer Kost, ist aber tatsächlich ein Abend voller Slapstick, Songs und Schockmomente. Ich bin ehrlich gesagt oft überfordert, weil so viele Figuren durcheinanderwuseln: Hitler taucht auf, Trump, Goethe, Merz, Putin, Jesus – und zwischendrin immer wieder Gesang, Tanz, Schreien, Küssen, Brüllen. Friedrich Merz ist dabei mein persönliches Highlight. Er trat als Ex-Kanzler auf, der 2025 abgewählt wurde, und spricht über sich selbst in der Vergangenheit – herrlich absurd und nach dem Abtritt der Ampelregierung für mich sehr plausibel.
Putin, halbnackt auf einem Bären mit einem Würstchen in der Hand, ist dagegen einfach köstlich. Das Musical über seine Liebe zu Tieren („musikalische Spezialoperation“) trifft genau diesen von Praunheim-typischen Punkt zwischen Albernheit und Abgrund. Ich musste jedenfalls schmunzeln.
Und dann ist da noch Oskar, der bellende Hund im Hitler-Tonfall, der ständig zur Ordnung gerufen wird. In solchen Momenten kippt das Stück ins pure Kabarett. Auch die beiden Penisköpfe – statt Pickelhauben tragen sie Penissymbole auf dem Kopf – sind eine dieser schamlos überzeichneten Ideen, die man entweder großartig oder abstoßend findet. Ich schwanke irgendwo dazwischen, aber das Lachen gewinnt.
Irgendwann stumpft man ab
Rückblickend verstehe ich, warum Kritiker*innen das Stück als „finsterböse Polit-Farce“ oder „hochnotkomischen Fiebertraum“ beschreiben. Ich stimme zu: Es ist beides. Nur dass ich, anders als die Sehenden, ständig darauf angewiesen war, dass mir jemand sagt, wer da eigentlich gerade spricht oder singt. Ohne Audiodeskription wäre dieser groteske Reigen aus Politikerinnen, Dichtern und Diktatoren für mich schlicht unverständlich.
Was mich allerdings wirklich irritierte, war die Häufung von Phallussymbolen. Überall Penisse, ob als Waffe, Witz oder Wappen. Die zwei Penisköpfe mit ihren glänzenden Helmen sind noch lustig, aber irgendwann frage ich mich, ob man sich im Theater nicht auch ohne ständige Körperteile über Macht lustig machen kann. Ich verstehe schon, das ist von Praunheims Markenzeichen: alles überdrehen, alles entblößen, nichts heilig lassen. Aber irgendwann stumpft man ab.
Audiodeskription: Orientierung im politischen Karneval
Die Audiodeskription hilft mir unglaublich, mich nicht in diesem Wust an Figuren zu verlieren. Ohne sie würde ich gar nicht wissen, dass Wagenknecht rot und Weidel blau trägt, mit Perlenkette und blondem Zopf. Diese Farbcodierung war wohl sofort erkennbar. Für mich wird sie erst durch die Beschreibung hörbar.
Die Sprecherin hat eine angenehme Stimme, warm und ruhig, und wechselt elegant zwischen sachlicher Information und sarkastischem Unterton. Sie schafft es, das Stück verständlich zu halten, ohne die Komik zu zerstören.
Natürlich ist nicht alles perfekt. In der Generalprobe wird noch an Timing und Pausen gefeilt. Besonders in der Goethe-und-Jesus-Szene spricht sie manchmal gleichzeitig mit den Schauspielern, und ich fliege kurz raus. Das ist bei einem Stück, das offenbar viel improvisiert, kaum zu vermeiden.
Ich merke auch, wie wichtig Wiederholungen sind. Manchmal sagt die Audiodeskriptorin nur, „Er tut es“ oder „Sie tun es“, und wenn ich den Satz davor akustisch nicht verstehe, weiß ich nicht, was sie eigentlich tun. In solchen Momenten hilft es, den Satz einfach zu wiederholen – lieber einmal zu viel als zu wenig. Aber das sind Kleinigkeiten.
Trotzdem: Insgesamt ist das eine großartige Leistung. Besonders in den Songs, wo sie sich zurückhält, wirkt alles sehr harmonisch. Und im Zweifelsfall ist es eben doch nur die Generalprobe der Audiodeskription und ihr könnt euch auf eine perfekte Vorstellung am 23. Oktober freuen.
Ein Stück, das bleibt – ob man will oder nicht
Als das Licht ausgeht, bleibe ich mit einem merkwürdigen Gefühl sitzen. Zwischen Lachen, Kopfschütteln und Bewunderung. „Die Insel der Perversen“ ist kein Stück, das man einfach genießt. Es ist ein Angriff auf die Sinne, auf die Sprache, auf das eigene Urteilsvermögen. Man wird hineingeworfen in ein Chaos aus Politik, Parodie, Drag, Musik und Unsinn – und soll darin Orientierung finden. Für mich war diese Orientierung nur dank der Audiodeskription möglich.
Ich finde es allerdings schade, dass ich das Stück nicht in seiner Hochphase im Februar gesehen habe, als Wahlkampf und politische Empörung alles überlagerten, aber selbst mit dieser Distanz war das Stück noch aktuell und lustig auf eine bissig-böse Weise. Die Aktualität mag verblasst sein, aber die Mechanismen, die das Stück vorführt – Macht, Heuchelei, Moralismus – sind zeitlos.
Am Ende verlässt man die Insel nicht erleuchtet, sondern leicht erschöpft – aber mit einem leisen Grinsen. Weil man weiß, dass diese Übertreibung vielleicht gar nicht so weit weg ist von der Wirklichkeit. Und dass ein Theaterabend, der einem so lange im Kopf herumspukt, vielleicht genau das Richtige tut.
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Foto: © Eike Walkenhorst

