„Nicht einschlafen!“ Diesen Ausruf hört man im Laufe des Abends immer wieder – mal komisch, mal mahnend, mal fast zärtlich. Am 15. Juni hatte ich das Vergnügen, mir Christoph Marthalers Inszenierung Wachs oder Wirklichkeit an der Berliner Volksbühne mit Audiodeskription anzuhören – eingesprochen von Imke Baumann. Ein Abend, der viele Fragen aufwirft, aber nicht unbedingt Antworten liefern möchte.
Zwischen Wachs und Wirklichkeit – ein verwirrender Einstieg
Schon in der audiodeskriptiven Einführung wird klar: Das Bühnenbild ist komplex und liebevoll im Stil eines Wachsfigurenkabinetts gestaltet. Die Tastführung vorab lohnt sich sehr – nicht nur, um die vielen Details begreifbar zu machen, sondern auch, um sich eine grobe räumliche Vorstellung zu verschaffen. Denn wer weiß beim bloßen Zuhören schon, ob die Figuren, die wie Karl Lagerfeld, Taylor Swift, Lady Diana, Heino oder Einstein aussehen, wirklich aus Wachs sind – oder sich nicht doch bewegen?
Wie immer versuche ich vor der Vorstellung, etwas über das Stück zu recherchieren – aber das gestaltet sich diesmal schwierig. Die Ankündigung verspricht ein „Happening“, und wer sich darunter nichts vorstellen kann, sei genau richtig. Dieser Satz beschreibt meine Stimmung ganz gut: verwundert, aber neugierig. Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen mit der Volksbühne – besonders mit Stücken von René Pollesch – bin ich darauf vorbereitet, nicht alles verstehen zu müssen und können.
Philosophieren im Wachsfigurenkabinett
Die Schauspieler*innen tragen wächserne Masken und Kostüme, spielen aber nicht etwa die Prominenten, denen sie äußerlich ähneln. Stattdessen philosophieren sie über das Leben, den Tod, den Stillstand und das Vergehen. Wann lebt man wirklich – und wann ist man nur noch eine leere Hülle?
Die Inszenierung lebt von skurrilen Momenten: Eine Figur wiederholt in Endlosschleife „Rythm“ auf dem Klavier und verkündet zwischendurch, dass man sich noch gedulden muss. Eine Aufseherin ruft regelmäßig „Nicht einschlafen!“ und bringt die anderen zur Ordnung. Lady Diana erzählt, dass sie immer dann angerufen wird, wenn sie gerade nicht da ist. Und zwischendrin erklingt „That’s what friends are for“, gesungen von der Wachsfiguren-Taylor-Swift.
Eine Geschichte innerhalb des Stücks fällt besonders heraus: die Erzählung von „Klein H aus Pankow Süd“, einer seltsamen Liebesgeschichte mit Mordkomplott. Hier fällt auch mein Lieblingssatz des Abends: „Ich sehe übrigens nackt fürchterlich aus.“ Warum diese Geschichte Teil des Stücks ist? Ich weiß es nicht. Aber sie gibt mir Halt, einen Anker, an dem ich mich dramaturgisch orientieren kann – an einem ansonsten eher konfusen Theaterabend.
Eine Geschichte innerhalb des Stücks fällt besonders heraus: die Erzählung von „Klein H aus Pankow Süd“, einer seltsamen Liebesgeschichte mit Mordkomplott. Hier fällt auch mein Lieblingssatz des Abends: „Ich sehe übrigens nackt fürchterlich aus.“ Warum diese Geschichte Teil des Stücks ist? Ich weiß es nicht. Aber sie gibt mir Halt, einen Anker, an dem ich mich dramaturgisch orientieren kann – an einem ansonsten eher konfusen Theaterabend.
Audiodeskription mit Haltung
Imke Baumann trägt die Audiodeskription mit hörbarem Spaß vor – süffisant, aber nie abgehoben. Sie kündigt gleich zu Beginn an, dass die Figuren nicht die Persönlichkeiten darstellen, denen sie äußerlich ähneln. Diese Einordnung hilft mir enorm, nicht in die Irre geführt zu werden.
Gerade weil das Bühnenbild so komplex ist, ist die vorherige Begehung hilfreich. Leider verpasse ich sie an diesem Abend und so bleibt der Bühnenraum für mich abstrakt. Auch die musikalischen Passagen fordern mich – zumindest im Zusammenhang mit der Audiodeskription – heraus: Sie sind sehr laut, sodass ich immer wieder mit dem Regler kämpfe und mich frage, ob meine sehenden Nachbar*innen mich gerade empört anschauen. Zum Glück bleibt es von dieser Seite aus still. Ich bin Imke dankbar dafür, dass sie in der Beschreibung trotzdem bei den Promi-Namen bleibt – so kann ich die Figuren besser auseinanderhalten, auch wenn sie im Verlauf des Abends teilweise andere Rollen einnehmen zum Beispiel wird die Putzfrau zu Queen Elizabeth.
Was bleibt?
Wenn mich jemand fragen würde, worum es in Wachs oder Wirklichkeit geht, würde ich antworten: um die Grenze zwischen Echtheit und Künstlichkeit. Um den schmalen Grat zwischen Leben und Stillstand. Um Verfall – und um die Frage, ob wir vielleicht alle längst ein bisschen Wachsfigur geworden sind.
Während der Vorstellung beschäftige ich mich jedoch wenig mit diesen großen Fragen. Ich lasse mich eher berieseln – von den langen Monologen, den absurden Dialogen und den musikalischen Einlagen. Als Musikliebhaberin genieße ich vor allem letztere. Inhaltlich fühle ich mich nicht tief angesprochen, dafür ist die Struktur des Abends zu lose, die Dramaturgie zu sprunghaft.
Aber im Vergleich zu Stücken wie Und jetzt? oder Die Gewähr der Kathrin Angerer von Pollesch, komme ich dieses Mal immerhin nur mit einem kleinen Fragezeichen aus dem Saal.
Mein Fazit
Wachs oder Wirklichkeit ist unterhaltsam, humorvoll, melancholisch – und vor allem ungewöhnlich. Ich würde das Stück mit Audiodeskription empfehlen, wenn man sich auf einen Abend ohne klare Handlung einlassen kann. Wer Freude an philosophischen Monologen, schräger Musik, skurrilem Theater und dem Spiel mit Identität hat, wird sicher auf seine Kosten kommen. Und wer einfach nur ein bisschen Wachs schmelzen hören will – auch.
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Foto: © Matthias Horn

