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Audiodeskription beim Theatertreffen 2025: „Unser Deutschlandmärchen“

Posted in Allgemein

„Ich liebe dich, mein Granatapfelkern.“

Wie jedes Jahr im Mai schlagen in Berlin nicht nur die Bäume aus, sondern auch das Theatertreffen wieder voll ein. Diesmal kann ich ein Stück im Maxim-Gorki-Theater mit Audiodeskription erleben – „Unser Deutschlandmärchen“ nach dem Roman von Dinçer Güçyeter – ein echtes Berliner Heimspiel.

Zum Stück „Unser Deutschlandmärchen“

Das Stück handelt von der Beziehung der türkischstämmigen Fatma zu ihrem Sohn Dinçer. Fatma kommt mit ihrem Mann in den 1960er Jahren nach Deutschland und kennt ihr Leben lang nichts als Arbeit. Dabei lässt sie sowohl die Untreue ihres Mannes als auch die Unterdrückung durch andere Männer über sich ergehen. Ihrem Sohn Dinçer bringt sie bei, dass man nur durch harte Arbeit zum Ziel kommt. Als der ihr mit acht Jahren von seinem ersten Geld pinke Pumps kauft, zieht sie die Schuhe nur einmal an. Fatma hat keine Zeit zum Tanzen. Sie muss arbeiten. Währenddessen versucht sich Dinçer so gut wie möglich von dem unbarmherzigen Leben seiner Mutter abzugrenzen. ER mag Theater, Poesie und findet auch die Pumps seiner Mutter nicht schlecht.

Die Musik lässt kein Auge trocken

Das Besondere an dieser Inszenierung ist für mich die Musik. Während Fatma immer wieder türkische Lieder über Liebe und Herzschmerz vorträgt, schmettert ihr Sohn eher Rock und Metal-Musik. Beide werden von einer fantastischen Live-Band begleitet. Die Lieder sind so passend gewählt und berührend vorgetragen, dass kein Auge trocken bleibt. Die facettenreiche Stimme von Sesede Terziyan macht die Inszenierung zu etwas ganz Besonderem.

Mutter und Sohn

Das Zusammenspiel zwischen Mutter und Sohn ist berührend, die Atmosphäre zwischen den beiden angespannt und doch voller Liebe. Dinçer versteht nicht, warum seine Mutter sich nie beschwert, nie etwas geändert, nur ertragen hat. Er wünscht sich, dass Fatma mehr Lust am Leben gezeigt hätte. Fatma wiederum nimmt ihren Sohn schon früh zum Arbeiten mit, bringt ihm bei, sein eigenes Geld zu verdienen, will, dass er mit den Händen arbeitet. Seine Gedichte will sie nicht hören, seine queeren Fantasien ignoriert sie. Diese Härte steht für mich im scharfen Kontrast zu Fatmas innigem Wunsch, ein Kind zu bekommen. Eine der berührendsten Szenen ist für mich die, in der Fatma erkennt, dass ihr Mann fremdgeht, weil seine Geliebte ihm eine Postkarte schickt. Dinçer liest die Postkarte während er gleichzeitig Herbert Grönemeyers „Gib mir mein Herz zurück“ singt. Tatsächlich gibt es aber unzählige Szenen, die mich berührt und entweder zum Schmunzeln oder zum Nachdenken angeregt haben: Als Fatma von ihrer Großmutter erzählt, die von ihrem Ehemann immer nur als Nomadin bezeichnet wurde. Als Dinçer und Fatma sich darüber streiten, ob Dinçer ans Theater gehen darf oder nicht. Als Dinçer sich gegen Angriffe im Kindergarten zur Wehr setzt. Als Fatma Geld von den Männern zurückfordert und diese sie abschätzig abweisen.

Audiodeskription woanders

Die Audiodeskription wurde von Anke Nicolai eingesprochen. Als Hörfilm ist sie ebenfalls in der 3sat-Mediathek zu finden. Das Besondere an der Audiodeskription war, dass die Autorin nicht im selben Saal saß. Anke befand sich die ganze Zeit im Tonstudio in einem anderen Gebäude. Laut eigener Aussage saß sie bereits hinter, über und sogar unter der Bühne, aber noch nie in einem vollkommen anderen Gebäude. Dafür hat es erstaunlich gut funktioniert. Nur ganz am Ende, während des Beifalls, fällt ihr Monitor für kurze Zeit aus.

Ihre angenehme Stimme war unaufdringlich und hat sich gut ins Stück eingefügt. Manchmal spricht sie jedoch über Dialoge, was mich annehmen lässt, dass es vielleicht doch eine Verzögerung in der Übertragung gibt.

Die Lieder werden von Anke übersetzt, worüber ich zum einen froh bin, insbesondere, was die türkischen Lieder angeht. Zum anderen war die Musik natürlich so schön, dass ich ab und zu lieber auf den Gesang höre als auf die Übersetzung.

Einfach nur Liebe reicht

„Unser Deutschlandmärchen“ hat mir gezeigt, dass wir geliebte Menschen nicht immer vollständig verstehen müssen. Jede Biografie bringt eigene Brüche, Kämpfe und Entscheidungen mit sich. Manchmal muss man die Beweggründe einer geliebten Person nicht nachvollziehen können, man muss sie einfach nur lieben und das reicht. Der Stoff des Stückes ist tiefgehend, aber vor allem durch die musikalischen Einlagen und den Humor leicht verdaulich präsentiert und das bei immerhin einhundertdreißig Minuten Länge.

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Foto: © Ute Langkafel MAIFOTO