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Interview mit Schauspielstudentin Annika Molke: „Inklusion sollte kein ‚Extra‘ sein, sondern ein natürlicher Teil der Theaterausbildung.“

Posted in Barrierefreiheit im Theater, and Theaterrezension

Beim neunzehnten Theaterclub des Berliner Spielplan Audiodeskription drehte sich alles um Annika Molke, Schauspielstudentin mit Sehbehinderung an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Annika befindet sich im Abschluss ihres Studiums. In einem spannenden Interview, das wir für diesen Blogbeitrag gekürzt haben, spricht Annika über Hürden, Anpassungen und darüber, wie wichtig Repräsentation und Inklusion auf und hinter der Bühne sind.

Lavinia: Hallo Annika, schön, dass du da bist. Da es nur wenige Schauspieler*innen mit Sehbehinderung gibt, interessiert mich: Warum hast du dich für das Theater entschieden?

Annika: Ich bin schon lange beim Theater. In der Grundschule habe ich angefangen, Theater zu spielen, und später viele tolle Projekte gemacht. Nach der Schule habe ich ein FSJ in der Dramaturgie gemacht. Da habe ich aber gemerkt, dass mir das zu passiv ist. Ich wollte auf die Bühne. Bei den Bewerbungen an Schauspielschulen war ich unsicher. Ich wollte weder wegen meiner Behinderung genommen noch abgelehnt werden, sondern wegen meiner Fähigkeiten. An der Otto-Falckenberg-Schule in München hat es dann geklappt, und da bin ich jetzt.

Lavinia: Du hast gesagt, du wolltest weder aufgrund deiner Behinderung aufgenommen noch abgelehnt werden. Wie bist du damit im Aufnahmeverfahren umgegangen?

Annika: In München muss man ein Motivationsschreiben einreichen, und ich habe meine Behinderung erwähnt. Es ist ein Grund, warum ich Schauspielerin werden wollte: Ich möchte, dass Menschen mit Sehbehinderung repräsentiert werden. Bei der Aufnahmeprüfung war das aber kein großes Thema. Die Dozierenden haben darauf geachtet, mich nicht anders zu behandeln, und ich konnte sagen, wenn ich etwas brauchte. Nach der Aufnahme gab es Gespräche darüber, was ich benötige, aber vieles mussten wir gemeinsam herausfinden, weil weder die Schule noch ich Erfahrung damit hatten.

Lavinia: Wie sieht denn so ein Schauspielstudium aus? Was sind die Herausforderungen, und wie meisterst du sie zusammen mit den Dozentinnen oder deinen Kommilitoninnen?

Annika: Ein großer Teil des Studiums ist körperlich: Stimme, Sprechen, Bewegung, Tanz und Kampf. Manche Dinge kann ich nicht genauso machen wie die anderen. Meine Bewegungsdozentin geht da sehr gut mit um. Wir probieren zusammen Lösungen aus, wenn etwas für mich nicht funktioniert. Zum Beispiel gibt es Übungen, bei denen wir uns als Gruppe im Raum bewegen und uns gegenseitig körperliche Impulse geben sollen. Solche Übungen sind für mich auf Dauer sehr anstrengend, weil ich Schwierigkeiten habe, die anderen Menschen im Raum räumlich wahrzunehmen und mich gleichzeitig selbst zu orientieren. In solchen Fällen finde ich zusammen mit meiner Dozentin Alternativen. Oft setze ich mich an den Rand des Raumes und bekomme Beobachtungsaufgaben: Ich soll darauf achten, was die anderen machen, welche Dynamiken entstehen, und kann daraus lernen. Manchmal soll ich auch der Gruppe Anweisungen geben, wie etwa: „Jetzt macht die und die Person ein Solo, und alle anderen richten den Fokus auf sie.“ Das bringt eine ganz neue Perspektive in die Übung, die für mich ebenso wertvoll ist. Fächer wie Gesang und Sprechen liegen mir gut und machen mir dagegen großen Spaß.

Ein weiterer großer Bestandteil des Studiums ist der Rollenunterricht, bei dem wir Monologe oder Szenen in Gruppen erarbeiten, Texte lesen, proben und aufführen. Da ich weiß, was ich brauche – wie zum Beispiel Textfassungen in großer Schrift –, funktioniert dieser Bereich für mich meist problemlos, auch weil viel Selbstständigkeit gefragt ist. Trotzdem kommt es manchmal zu Diskussionen. Ein Beispiel aus dem ersten Jahr war eine Szene aus „Der Krüppel von Inishmaan“ von Martin McDonagh, die ich mit zwei Kommilitonen gespielt habe. In dieser Szene gibt es eine Figur mit Spastik und eine weitere Figur, die sie ständig beleidigt. Ich habe die aggressive Figur gespielt, während mein Kommilitone die Figur mit Spastik darstellte, obwohl er keine Behinderung hat. Das führte zu einer hitzigen Diskussion an der Schule, ob das überhaupt angemessen ist. Als einzige Betroffene wurde ich in der Diskussion oft überhört.

Lavinia: Wie gehst du damit um, wenn du zum ersten Mal mit sehenden Kommiliton*innen oder Schauspieler*innen zusammenarbeitest?

Annika: Ich habe sichtbare und nicht-sichtbare Teile von Behinderung, und ich versuche immer, die Sichtbaren sehr direkt anzusprechen. Gerade mein Zittern der Augen wird oft als Aufregung wahrgenommen. Manche Menschen denken auch, ich sei auf Drogen. Um solche Missverständnisse zu vermeiden, sage ich kurz, dass das bei mir so ist, und dass ich mich melde, wenn ich etwas brauche. Wenn die Menschen nachfragen, beantworte ich auch sehr gerne ihre Fragen.

Lavinia: Ist das nicht auch anstrengend, ständig erklären und sensibilisieren zu müssen?

Annika: Ja, das ist es. Vor allem während meines Studiums war es oft anstrengend, weil ich ständig meine Schule, meine Dozentinnen und meine Kommilitoninnen sensibilisieren musste. Es wurde oft erwartet, dass ich immer genau weiß, was ich brauche, welche Lösungen funktionieren und welche Probleme auftreten könnten, weil es große Angst gibt etwas „falsch“ zu machen.

Wenn die Schule oder der Ort schon Erfahrung mit solchen Situationen gehabt hätte, wäre das natürlich einfacher gewesen. Meine Schule versucht integrativ zu sein, also zu akzeptieren, dass ich Dinge anders mache, aber inklusiv ist sie nicht. Auf Dauer ist das sehr anstrengend. Es gibt Tage, an denen ich das gerne mache, weil es Erkenntnisse bei anderen auslösen kann, aber es gibt auch Tage, an denen ich einfach keine Lust habe, mich ständig erklären zu müssen.

Lavinia: Glaubst du, dass diese Anstrengung etwas damit zu tun hat, dass es so wenige Theaterschauspieler*innen mit Sehbehinderung gibt?

Annika: Ja, ich glaube schon. Viele Menschen mit Behinderung, die ich in Theaterclubs oder Projekten kennengelernt habe, haben wenig Selbstvertrauen in ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Sie können sich oft nicht vorstellen, das beruflich zu machen, weil sie denken, dass sie nicht hineinpassen oder nur sich selbst spielen könnten.

Natürlich gibt es auch systematische Herausforderungen. Ich kenne zum Beispiel einen Fall, wo sich jemand mit Behinderung an einer großen Schauspielschule beworben hat und es wurde einfach gesagt: „Nein, das geht nicht.“ Solche Erlebnisse schrecken natürlich ab.

Lavinia: Dann ist diese Zurückhaltung also auch ein Stück weit berechtigt?

Annika: Ja, absolut. Es ist aber eine Sache, bei der beide Seiten aufeinander zugehen müssen. Die Schulen sollten zeigen, dass es möglich ist, Menschen mit Behinderung auszubilden, und gleichzeitig brauchen Menschen mit Behinderung das Vertrauen, sich zu bewerben. Meine Schule bemüht sich zum Beispiel darum, integrativ zu sein und sagt auch, dass sie mehr Bewerbungen von Menschen mit Behinderung möchte. Aber oft bleibt es dabei, weil auf beiden Seiten Unsicherheiten bestehen. Die Schulen fragen sich, ob sie ausreichend vorbereitet sind, und die Bewerber*innen zweifeln, ob sie akzeptiert werden. Das macht es schwierig.

Lavinia: Was wünschst du dir für die Zukunft deines Studiums oder für Theaterausbildungen im Allgemeinen, wenn es um Inklusion geht?

Annika: Ich wünsche mir, dass Inklusion nicht als etwas „Extra“ behandelt wird. Es sollte nicht so sein, dass wir für einen Workshop oder ein Projekt kurz inklusiv arbeiten und dann wieder zum üblichen Theater zurückkehren. Inklusion sollte Teil des Ganzen werden, ohne dass alles zwingend darauf ausgelegt sein muss. Zum Beispiel fände ich es spannend, Szenen oder Monologe auch mit Audiodeskription zu erarbeiten, um das Handwerk dafür zu lernen. Es könnte auch mehr Fokus auf Projekte geben, die über Geräusche und akustische Elemente funktionieren. Leider passiert das selten, weil in der Studierendenschaft kaum Menschen mit Behinderung sind. Das Thema ist dadurch kaum präsent und wird oft nicht aufgegriffen, und das ist schade.

Annika Molke, geboren in Dresden, war bereits an vielen Theaterprojekten beteiligt (unter anderem „Bilder ohne Lila“ Regie Adrian Figueroa, Staatsschauspiel Dresden). Seit 2021 studiert sie an der Otto-Falckenberg-Schule München Schauspiel und ist derzeit kurz vor dem Abschluss.

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