Am 20. Mai schaue ich mir das Stück „Übergewicht, unwichtig: Unform“ von Werner Schwab, inszeniert von Rieke Süßkow an. Dies ist das zweite Stück, das im Rahmen des diesjährigen Theatertreffens mit Audiodeskription gezeigt wird und zwar an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Nachdem mich „Die Hundekot-Attacke“ zwei Tage zuvor stark beeindruckt hatte, gehe ich mit hohen Erwartungen und zugegebenermaßen keinerlei Vorkenntnissen zu Werner Schwab in das Stück. Darum geschieht es mir wohl auch ganz recht, dass ich von Penissen, Vulven, Kannibalismus, Masturbation und Gewalt geradezu überfallen werde – alles punktgenau und neutral beschrieben von der Sprecherin der Audiodeskription, Charlotte Miggel.
Es geht gut los.
Fast fühle ich mich, als wäre ich eine Würdenträgerin, so viele Theaterleute haben sich um mich und die anderen blinden und sehbehinderten Zuschauer*innen versammelt, um uns zur Tastführung zu geleiten. Zuerst betasten wir ein maßstabgetreues Modell der Bühne, auf der sogar einige Requisiten stehen. Die Requisiten sind kleine Nachbildungen, die zwar nicht aus „Übergewicht, unwichtig: Unform“ stammen, sondern aus „Geht es dir gut“, aber sie sind trotzdem liebevoll gemacht.
Auf die Bühnenbetastung folgen einige Requisiten, diesmal vom Stück höchstpersönlich. Es gibt zum Beispiel Obst, das in einer Art Collage zusammengesteckt wurde und wenn ich mich recht erinnere, aus Plastik ist. Dann gibt es auch einige Esswaren, die Geräusche machen. Wir erfahren, dass man für das Stück lange mit Geräuschen experimentiert hat, um den richtigen Klang zu bekommen. Für den richtigen Knack stehen also ungekochte Nudeln und Chips auf dem Speiseplan. Das Besondere an diesem Stück ist übrigens, dass die Schauspieler*innen sich synchron zu den Geräuschen im Hintergrund bewegen. Derjenige, der die Geräusche abspielt, hat also eine wichtige Aufgabe und ist nicht leicht ersetzbar.
Die Tastführung endet mit den Kostümen. Die Kostüme sind wohl eines der wichtigsten Aspekte des Stücks, denn die Schauspieler*innen tragen großteils sogenannte „Körperchen“. Das sind Kostüme und Masken, die ihre eigentlichen Körper vollkommen verstecken. Sie entblößen ihre Geschlechtsteile. Ich schaue mir das natürlich mit meinen Händen ganz genau an. Ekelhaft lebensecht und klebrig fühlen sie sich an. Die meisten haben eine abnehmbare Vulva oder einen Penis aufgenäht.
Das Stück: Ich möchte mich nicht identifizieren
Die sechs Figuren, die sich in einem Wirtshaus befinden, sind wie Spielfiguren in einer Reihe aufgestellt. Sie bewegen sich synchron zu den Geräuschen, die abgespielt werden. Besonders ekelerregend bleiben mir die Geräusche eines schmatzenden Mundes und der enorm langen Wurst in Erinnerung, die sich „Votzi“, eine der Figuren, sowohl in die Vagina schiebt und aus ihr auch wieder herauszieht. Abseits von den sechs vulgären Wirtshausinsassen sitzt das „schöne Paar“ und isst Obst, jedenfalls so lange, bis es von den Gästen überfallen und gefressen wird. Im zweiten Teil erscheint das Paar im Wirtshaus und gibt sich überheblich. Als Zuschauerin möchte man sich weder mit den masturbierenden, schlagenden und schimpfenden Wirtshausgästen noch mit dem hochmütigen Pärchen identifizieren. Derweil beschreibt Charlotte, perfekt in die Sprechlücken hinein. Ihre Stimme ist neutral und macht das Schauspiel einigermaßen erträglich.
Fazit: Harter Tobak
Was die Inszenierung angeht, ist „Übergewicht, unwichtig: Unform“ sicherlich ein tolles Stück. Die Körperchen sind in aufwändiger Handarbeit gefertigt worden. Die Schauspieler*innen zeigen eine ausgefeilte Choreografie an Bewegungen, die mit den Geräuschen abgestimmt ist. Das Stück führt uns unsere eigene Überheblichkeit gegenüber vermeintlich minderwertigen Menschen vor Augen. Und doch ist es stellenweise für mich so unerträglich, dass ich tatsächlich versucht bin, den Saal zu verlassen. Besonders die Szene, in der eine Frau ihren Mann vergeblich mit der Hand befriedigt, kommt mir ewig lang vor. Die Brutalität, mit der ein Mann seiner Frau immer wieder ins Gesicht schlägt, lässt mich jedes Mal zusammenzucken. Am schlimmsten ist aber die Votzi mit ihrer Wurst. Wenn die Regisseurin absolute Abscheu und vollkommenes Unbehagen beim Publikum auslösen wollte und ich schätze, dass dies, trotz der Darstellung der Figuren als Spielfiguren, bei den meisten Zuschauer*innen der Fall war, ist es ihr bravourös gelungen. Ich kann dieses nur für diejenigen weiterempfehlen, die starke Nerven haben und offen für solch unbarmherzige Gesellschaftskritik sind. Harter Tobak, aber trotzdem zu Recht für das Theatertreffen ausgewählt.
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